Wer hat Angst vor der bösen Frau? Was man über Female Recruiting wissen muss

Justyna Nimmich
way consulting e.K.

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Es geht ein Schreckgespenst umher. Die böse Frau, die unqualifiziert und unwissend hochqualifizierten Männern die Jobs entreißt und nur dank ihres Geschlechts die gut bezahlten Managementjobs ergattert, um dann auch noch die Lorbeeren für die scheinbar mühelose Vereinbarkeit von Beruf, Familie und gutem Aussehen erntet – oder nicht so gutem Aussehen – oder einfach Aussehen, aber in jedem Fall ist es wichtig zu erwähnen, dass sie aussieht.

Doch zum Glück ist das mit diesen Schreckgespenstern so, dass sie nur in unserem Kopf sind, solange das Licht aus bleibt. Sobald wir den Schalter umlegen, wird aus dem schrecklichen Gespenst wieder die Jacke, die am Schrank hing. So sind wir Menschen. Und das tragen wir auch in die Arbeitswelt, unsere Erfahrungen, unsere Hoffnungen und auch unsere Ängste und Vorurteile.

HR und damit auch das Recruiting, ist eine der Disziplinen der Arbeitswelt, welche am intensivsten mit diesen Phänomenen konfrontiert wird. Die Entkoppelung von Mensch und Arbeit gehört immer mehr der Vergangenheit an und wenn wir unsere Unternehmen in den nächsten Jahren wettbewerbsfähig machen möchten, müssen wir den Faktor Mensch verstehen. Wenn wir das verinnerlicht und verstanden haben, können wir mit deutlich weniger Aufwand erfolgreich sein – unternehmensweit.

Doch, warum ist es dann so unglaublich schwer, gutes Personal und noch schwerer gutes weibliches Personal zu finden? Ich sehe hier drei Kernbereiche, die betrachtet werden müssen.

  • Stellenbe- und ausschreibungen
  • Interviewführung
  • Interviewbewertung

Wenn wir noch einen Schritt weiter gehen und über die Bindung der Mitarbeitenden sprechen, kommt noch die Vorbereitung der Teams und der Führungskräfte auf heterogene Teamzusammenstellungen hinzu.

Eine der größten Herausforderungen ist, dass wir alle gleich und doch unterschiedlich sind und somit auch das Recruiting allgemeingültig individuell sein muss. Männer und Frauen sind gleich und doch anders, introvertierte und extrovertierte Menschen sind gleich und doch anders, junge und alte sind gleich und doch anders, verschiedene soziale Hintergründe sind gleich und doch anders.

Und alle zudem mit individuellen emotionalen Erfahrungsrucksäcken, die wir von der Kindheit an packen. Ein komplexes System von Menschen – genauso komplex wie unsere Unternehmen mittlerweile sind. Daher können wir nicht mehr eine Anzeige im Wochenblatt platzieren, mit dem Titel: Suche Buchalter – Telefon: 0123/45676.

Wenn wir also vom Female-Recruiting sprechen, sollten wir eigentlich von individualisiertem Recruiting sprechen, das den Pool an passenden Talenten optimal füllt.

Aufgrund der Sozialisierung, der patriarchalen Normen und dem gesellschaftlichen Konsens, werden Frauen und Männern bestimmte Attribute beigebracht, auf deren Basis wir dann funktionieren. Das führt (nicht nur) im beruflichen Kontext dazu, dass Männer sich in der Regel mehr zutrauen und ihnen umgekehrt auch mehr zugetraut wird, wohingegen Frauen erst bei 110-prozentiger Erfüllung der Attribute von “ich denke, ich kann das” sprechen. Diese Selbstwahrnehmung beeinflusst auch das Lesen von Stellenanzeigen. Frauen werden sich wahrscheinlicher auf Stellenanzeigen bewerben, die weicher geschrieben sind. Als Hilfestellung zur Überprüfung der eigenen Anzeige bietet die TUM einen Gender-Decoder. Hier werden Wörter in weiblich und männlich konnotierte Worte aufgeteilt, sogenannte kommunlae und agentische Worte. Auf den ersten Blick kann der Gedanke aufkommen, was an den agentischen Worten schlecht sei, schließlich sind ja alle Anzeigen so geschrieben. Generell sind diese Worte nicht per se schlecht. Es geht um die Wirkung, die diese auf Frauen und auch Männer haben. Wenn wir uns die dazugehörigen Synonyme zu Hilfe nehmen, wird deutlich, wie maskulin und auch teilweise negativ diese Worte wirken können.

durchsetzungsstark

Synonyme: robustautoritärtaffdurchsetzungsfähigwillensstarkmit starker Handherrisch

analytisch

Synonyme: untersuchendvernunftmäßigzerglie-derndzerteilendauseinandernehmend

eigenständig

Synonyme: selbstständigeigenautonomunge-hinderterwachsen

Nutzen wir hingegen kommunale oder neutrale Wörter, wirken diese deutlich freundlicher, ohne an Sinnhaftigkeit für die Position einzubüßen.

engagiert (anstatt durchsetzungsstark)

Synonyme: unablässig, hilfsbereit, ruhelos, emsig, umtriebig, bienenfleißig, dienstbereit, eilfertig, schaffig

justyna nimmich

lösungsorientiert (anstatt analytisch)

Synonyme: anwendungsbezogen, pragmatisch, lösungsorientiert, zielführend, ideologiefrei

handlungsbezogen

proaktiv (anstatt eigenständig)

Synonyme: initiativ (auch Initiative ergreifen), selbstbestimmt, vorausschauend, zukunfts-gestal-tend

Zum Glück für alle Rekruitierenden, Männer bewerben sich nicht weniger auf so geschriebene Anzeigen, sodass unser Bewerbendenpool größer und diverser wird und nicht rein feminin.

Das Verständnis für unser Gegenüber begleitet den kompletten Bewerbungsprozess. Natürlich empfinde ich ein Interview mit einer Person, die so tickt wie ich, als super und passend. Hier ist es aber wichtig zu überprüfen, welche dieser “Vibes” auch wirklich arbeitsrelevant sind. Welche Störgefühle kamen, allein weil das Gespräch anders verlief als mit allen Männern davor? Frauen neigen dazu, direkt eine Rechtfertigungshaltung aufzustellen. Noch bevor sie bei Ihnen am Tisch sitzen, gehen bei Frauen alle Fragen durch den Kopf, die nicht AGG-konform sind. Die Vorurteile, die man Frauen im gebärfähigen Alter und Müttern gegenüber hat, beeinflussen das Auftreten dieser beim Interview. Dies muss uns im Recruiting bewusst sein, es ist unsere Aufgabe, das anzufordern, einen sicheren Raum zu schaffen und die Gesprächspartner auf beiden Seiten zu lenken.

Darüber hinaus obliegt es uns – ob internes oder externes Recruiting – die Entscheidungsfindung neutral und im Sinne der Abteilung, des Unternehmens und der Wirtschaftlichkeit zu begleiten. Festgefahrene Denkmuster und Vorurteile aufzudecken, zu benennen und den Weg zu ebnen, um die optimale Besetzung zu bekommen. Dafür müssen wir immer wieder auch mit unseren Vorurteilen kämpfen. Auch wir sind Menschen, was unser großer Vorteil ist. Wir können umdenken, umlernen und Fehler korrigieren. Wenn Sie merken, bei einer Ende 20-jährigen Bewerberin kommt der Gedanke auf “uh, die wird bestimmt schwanger”, ist das in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, wenn es bei diesem Gedanken bleibt. Hinterfragen Sie sich selbst, welche Potenziale verloren gehen, nur weil Sie denken, jemand könnte eventuell, irgendwann, möglicherweise schwanger werden.

Öffnen Sie nochmal diese Schublade in Ihrem Kopf und prüfen Sie die Person auf ihre Potenziale.

Jedes Mal, wenn Sie Bewerbende bewerten.

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