Von Freibeutern und Ruderknechten

Steffen Ratschan
HUCON AG 

Zugegeben: Das Bild in der Überschrift klingt martialisch. Alternativ hätte ich diesen Beitrag auch “Von Sterneköchen und Burger-Bratern” nennen können – das Ergebnis wäre das gleiche.

Als mein langjähriger Weggefährte Christian Herrgott und ich zum 01.01.2022 die Chance ergriffen, uns eigenverantwortlicher und selbstbestimmter aufzustellen, haben wir uns gefragt: Wie müssen wir unser Business gestalten, dass es erfolgreich wird und allen Beteiligten Spaß macht. Dass es echten “Purpose” bringt, wie es nicht nur die GenZ einfordert.

Als Fans und Profis der spezialisierten Personal- und Engineering-Dienstleistung sind wir seit vielen Jahren mit den Anforderungen, Chancen und Risiken dieses Geschäftsmodells vertraut. Es stellte sich jetzt die Frage, wie wir quasi auf dem “Greenfield” alle relevanten Vertriebs- und Rekrutierungsstrukturen aufbauen und entsprechende Prozesse modellieren sollen.

Unter dem Dach der HUCON AG waren administrative Herausforderungen wie z.B. die Lohnabrechnung, die Buchhaltung oder das Backoffice rasch bewältigt.

Steffen Ratschan

Bei den Kern-Prozessen Vertrieb und Rekrutierung stellten wir alles uns Bekannte in Frage und ordneten alles der Effektivität und Effizient unter:

Davon ausgehend, dass jeder unserer Mitarbeiter von sich aus das Beste erreichen will und kann, wurden alle Vorgaben und KPI auf ein Minimum reduziert. Vertriebsmitarbeiter und Recruiter werden jährlich eingeladen, Ihre eigenen persönlichen Ziele im Rahmen eines Kollegen-Boards gemeinsam zu definieren – ohne unsere Beteiligung. Vertriebsmitarbeiter legten sich ausschließlich auf die Anzahl der gewonnenen Abschlüsse fest, woraus für die Recruiter die benötigte Anzahl an qualifizierten Kandidaten folgte.

Was uns von der gängigen Branchenpraxis unterscheidet, ist die Art, wie wir gemeinsam auf diese Ziele hinarbeiten. Nicht die Anzahl der Akquisetelefonate oder Jobinterviews wird festgelegt und geprüft, der Einstieg in die Soll-Ist-Vergleiche erfolgt viel weiter hinten in der Wertschöpfungskette. So erhalten alle Mitarbeiter Freiräume, entfalten eigene Ideen und erproben neue Methoden, von denen dann wiederum alle profitieren.

Oder um beim Bild zu bleiben:

Wir haben eine Mannschaft aus Freiwilligen, die ein selbst gestecktes Ziel erreichen wollen. Dazu die Segel setzen oder sich in die Riemen legen und stets bereit sind zum “Entern”.

Demgegenüber erfüllen viele arrivierte Modelle eher das Bild der römischen Galeere: Angetrieben vom Ruderschlag zahlloser Kechte, deren Schicksal buchstäblich an den Schiffsrumpf gekettet ist. Dem pausenlosen Trommeln des Antreibers folgend, spielen auf solchen Booten weder individuelle Stärken noch die Kreativität und Individualität der Ruderer eine Rolle.

Der Erfolg dieses Modells ist, analog zum historischen Schiffsvorbild, bewiesen.

Uns trieb jedoch auch die Frage um, wie glücklich diese Art zu arbeiten macht und wie nachhaltig die daraus folgende Personalpolitik sein kann.

Wir wussten aus eigener Erfahrung, dass es nicht lange dauert, bis Recruiter oder Vertriebler ihr Handeln dem Trommelschlag unterordnen, bis zu dem Zeitpunkt einer inneren Kündigung, neudeutsch quiet quitting. Wenn Du den motivierten und experimentierfreudigen Recruiter einmal zu oft am Donnerstag gefragt hast, wieso er seine kruden Wochenziele noch nicht erreicht hat, wird er irgendwann dazu übergehen, die fehlenden Interviews “irgendwie” zu dokumentieren. Sei es, dass er unqualifizierte Bewerber zum Gespräch einlädt, oder durch schlichtes Faken der Termine.

Obwohl wir unser Modell voller Zuversicht auf Kiel legten, waren wir positiv überrascht, wie erfolgreich unsere Freibeuter agierten, nachdem sie entfesselt wurden:

  • Besser sechs sehr aussichtsreiche Interviews und Zeit gewonnen für Methodenentwicklung als zehn Gespräche gegen die KPI-Strichliste.
  • Besser drei Top-Kunden besucht und Zeit gewonnen für die Bearbeitung von deren Anfragen als zehn seichte Kaffee-Termine zum Befüllen des CRM-Systems.
  • Besser in 30h alle Kernziele erreichen und den Rest zur persönlichen Weiterentwicklung nutzen als stumpfes Erfüllen von Vorgaben und trotzdem Überstunden machen.

Die Liste lässt sich endlos fortsetzen.

Welche Herausforderungen begegnen uns im Modell “Freibeuter” in der Praxis?

Das Erkennen von echter Low-Performance dauert relativ lange, entsprechend schwerfälliger sind auch Korrekturen. Diese “Dämpfung” der Mitarbeiter-Steuerung hilft aber auch, Schwächephasen, z.B. aufgrund von externen oder persönlichen Einflussfaktoren, ohne Aktionismus und Druck auszuhalten.

Impulse aus dem Team müssen erkannt, aufgenommen, geprüft und umgesetzt werden, um den Innovationsvorsprung zu halten. Das ist Christians und meine Aufgabe – macht auch mehr Spaß als KPI-Schubskreise zu moderieren.

Wir setzen auf Vertrauen und Selbstmotivation, was in einem bestehenden und bekannten Team einfacher funktioniert als mit neuen Kollegen oder bei expansionsbedingten Standortgründungen. Eine Filialisierung ist ohne die kleinteilige Gestaltung von Prozessen kaum umsetzbar. Das zeigt sich auch in den nicht vorhandenen Freiheitsgraden großer System-Gastronomen. Kaum vorstellbar, dass McDonalds oder Burger King einzelnen Restaurants erlauben, ein Filet mignon zu grillen, bloß weil der hiesige Koch oder Franchisenehmer das für eine gute Idee hält.

Aus dieser Not machen wir eine Tugend und stehen klar für einen regionalen Ansatz im süddeutschen Raum, den wir von unserem Hauptquartier in Kernen im Remstal aus erobern.

Entscheidend ist, seine eigenen Vorstellungen, Wünsche und Ansprüche von Arbeit und Führung mit den Möglichkeiten und Absichten des Unternehmens abzugleichen:

Möchtest Du auf dem wendigen Segelschiff ein Team von Freibeutern anführen oder auf der Galeere den Takt trommeln?

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